HANSEATISCHE RECHTSANWALTSKAMMER HAMBURG
Ausgabe 4/2023 vom 31. August 2023

BGH: Freie Mitarbeit vs. Scheinselbstständigkeit in Anwaltskanzleien

Der 1. Strafsenat des BGH stellte in seinem Urteil vom 8.3.2023 wichtige Kriterien für die Abgrenzung von sog. scheinselbständigen Rechtsanwälten und freien Mitarbeitern einer Rechtsanwaltskanzlei auf.

Der angeklagte Rechtsanwalt ist alleiniger Kanzleiinhaber und beschäftigte über ein von ihm praktiziertes „Modell der freien Mitarbeiterschaft“ im verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum von 2013–2017 zwölf Rechtsanwälte. Hierzu schloss er jeweils mit den Rechtsanwälten einen schriftlichen Vertrag („Freier Mitarbeitervertrag“) über eine zeitlich nicht befristete Zusammenarbeit sowie – in zehn dieser Fälle – eine weitere schriftliche Zusatzvereinbarung. Während der Mitarbeitervertrag insbesondere regelte, dass der Rechtsanwalt als freier Mitarbeiter für die Kanzlei tätig war, seine Sozialabgaben selbst abführte, eigenes Personal beschäftigen und selbst werben durfte sowie berechtigt war, das vereinbarte Jahresgehalt in monatlichen Teilbeträgen abzurufen, sah die Zusatzvereinbarung namentlich vor, dass die Beschäftigung eigenen Personals und die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei der Zustimmung der Kanzlei bedurften und Werbemaßnahmen abzustimmen und zu genehmigen waren.

Während ihrer Beschäftigung waren die Rechtsanwälte nur für den Angeklagten tätig, der ihnen auch die zu bearbeitenden Mandate zuwies. Sofern sie keine auswärtigen Termine wahrzunehmen hatten, erbrachten sie ihre Tätigkeit, wie vom Angeklagten erwartet und eingefordert, zu den Kanzleizeiten nahezu ausschließlich in den Kanzleiräumlichkeiten; hierfür stellte ihnen der Angeklagte, ohne sie an den Kosten zu beteiligen, neben einem eigenen Büro das geschulte kanzleiinterne Personal sowie die gesamte sonstige Infrastruktur seiner Kanzlei zur Verfügung. Das vereinbarte Jahreshonorar riefen die Rechtsanwälte regelmäßig einmal pro Monat anteilig per Rechnung ab, unabhängig von dem durch sie in dem jeweiligen Abrechnungszeitraum erwirtschafteten Umsatz.

In der Vorinstanz hatte das Landgericht den angeklagten Rechtsanwalt wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt gemäß § 266a Abs. 1 und 2 Nr. 2 StGB verurteilt. Der BGH schloss sich diesem Schuldspruch an. Das Landgericht habe zutreffend angenommen, dass der Angeklagte Arbeitgeber der zwölf Rechtsanwälte war und für diese der Sozialversicherungspflicht unterliegenden (abhängig) Beschäftigten Beiträge zur Sozialversicherung vorenthielt.

Zwar könne die Eigenart der Anwaltstätigkeit als einer Dienstleistung höherer Art mit einer sachlichen Weisungsfreiheit einerseits und einem weitgehend durch Sachzwänge bestimmten zeitlichen und örtlichen Arbeitsablauf es mit sich bringen, dass sich das Abgrenzungsmerkmal der äußeren Weisungsgebundenheit hinsichtlich Zeit, Ort und Dauer des Arbeitseinsatzes so reduzieren kann, dass es eine sichere Unterscheidung zwischen abhängiger und selbstständiger Ausübung nicht mehr erlaubt; auch könne die Eingliederung wegen der Eigenart der Berufsausübung eines Rechtsanwalts sowohl bei abhängiger Beschäftigung als auch bei freier Mitarbeit in erster Linie durch die Sachgegebenheiten bedingt sein, weil auch der freie Mitarbeiter sich der sachlichen und personellen Ausstattung der Kanzlei bedienen können muss.

Sofern allerdings im Einzelfall die Weisungsgebundenheit eines Rechtsanwalts deutlich über das sich aus Sachzwängen ergebende Maß hinausgeht, kann dies ein deutliches Zeichen sein, dass eine solche Tätigkeit als eine abhängige Beschäftigung zu qualifizieren ist. Entsprechendes gilt für die Eingliederung in die Kanzlei, falls diese über die durch Sachgegebenheiten bedingte hinausgeht oder losgelöst von diesen festzustellen sein sollte.

Maßgebend bleibe stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung. Soweit die Kriterien der Weisungsgebundenheit und der Eingliederung im Einzelfall an Trennschärfe und Aussagekraft verlieren, weil die konkreten Umstände sowohl bei einer abhängigen Beschäftigung als auch einer selbstständigen Tätigkeit festzustellen sein können, müsse im Rahmen der notwendigen Gesamtbetrachtung den übrigen Merkmalen mehr Gewicht beigemessen werden. In diesen Fällen sei vornehmlich auf das eigene Unternehmerrisiko und die Art der vereinbarten Vergütung abzustellen. Insoweit sei vor allem entscheidend, ob die Tätigkeit mit einem – gegebenenfalls pauschalierten – Verlustrisiko belastet ist und deshalb einer Gewinnbeteiligung gleichkommt oder ob sie lediglich als Gegenleistung für geschuldete Arbeitsleistung anzusehen ist.

Im vorliegenden Fall würden die vertraglichen Vereinbarungen, insbesondere aber die tatsächlichen Gegebenheiten der „gelebten Beziehung“ und das Fehlen jedweden unternehmerischen Risikos belegen, dass die Rechtsanwälte ihre Tätigkeit nicht als selbstständige freie Mitarbeiter, sondern als abhängig Beschäftigte ausübten.

BGH, Urteil vom 8. März 2023 – 1 StR 188/22