HANSEATISCHE RECHTSANWALTSKAMMER HAMBURG
Ausgabe 1/2023 vom 2. Februar 2023

Das virtuelle Gericht / Kammerversammlung und Hamburger Rechtstag

Dr. Christian Lemke, Präsident von Dr. Christian Lemke, Präsident

1. Das virtuelle Gericht

Die öffentliche mündliche Verhandlung im Gerichtssaal ist Kernelement rechtsstaatlicher Gerichtsverfahren. Dennoch hat die Corona-Pandemie gezeigt, dass nicht jedes Verfahren einer mündlichen Verhandlung im Gerichtssaal bedarf, sondern viele Verfahren durchaus auch virtuell verhandelt werden können, ohne dass der Rechtsstaat leidet. Für den Zivilprozess hat der Gesetzgeber bereits 2002 mit § 128a ZPO die Möglichkeit geschaffen, virtuell zu verhandeln, wenngleich nur mit Einverständnis der Parteien. Seit der Neufassung von § 128a ZPO im Jahr 2013 kann das Gericht auch von Amts wegen virtuelle Verhandlungen vorsehen, wobei sich die Möglichkeit des Gerichts bislang stets nur darauf beschränkte, den Verfahrensbeteiligten zu gestatten, sich während der Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten, an welchen die Sitzung ebenso wie in das Sitzungszimmer übertragen wird. Vor Corona wurde hiervon schon mangels entsprechender Ausstattung der Gerichte mit Videokonferenzsystemen kaum je Gebrauch gemacht. Während der Pandemie wurde dann eiligst nachgerüstet, wenngleich noch immer spärlich. Die Lernkurve war bei allen Beteiligten allerdings steil und belegte, dass es im Parteiprozess sehr häufig eben doch ohne Präsenzsitzung im Gerichtssaal geht.

Das Bundesministerium der Justiz hat nun jüngst einen Referentenentwurf eines "Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten" vorgelegt, mit welchem die Möglichkeiten des Einsatzes von Videokonferenztechnik in den Verfahrensordnungen deutlich erweitert werden sollen. Der Entwurf verdient Zustimmung, hat es aber auch in sich:

Über eine Neufassung des § 128a ZPO (und entsprechende Regelungen in den Verfahrensordnungen der Fachgerichtsbarkeiten) soll das Gericht eine Videoverhandlung nicht mehr nur gestatten, sondern anordnen können. Die Verfahrensbeteiligten sollen innerhalb einer vom Vorsitzenden zu bestimmenden Frist beantragen können, sie von der Anordnung einer Videoverhandlung auszunehmen. Eine Anfechtung der Anordnung des Gerichts ist nicht vorgesehen. Umgekehrt ist bei übereinstimmenden Anträgen der Parteien die Durchführung einer Videoverhandlung vom Gericht in der Regel anzuordnen. Eine ausnahmsweise ablehnende Entscheidung ist zu begründen und in diesem Fall anfechtbar.

Eine unanfechtbare Anordnung der virtuellen Verhandlung gegen den Willen einer oder gar aller Parteien des Rechtsstreits? Kaum vorstellbar. Andererseits kann jede Anfechtbarkeit das erklärte Ziel, die Terminierung von mündlichen Verhandlungen zu erleichtern und so zu einer Verfahrensbeschleunigung beizutragen, konterkarieren. Gestritten wird dann erst einmal darüber, ob in Präsenz oder virtuell zu verhandeln ist. Die Anordnung der rein virtuellen Verhandlung sollte daher von vornherein nicht ohne Einverständnis der Parteien ermöglicht werden; widersetzt sich eine Partei, so sollte es der anderen wie bislang weiterhin gestattet werden können, sich an der dann anzuberaumenden Präsenzverhandlung nur virtuell zu beteiligen. Das ermöglicht der Referentenentwurf gerade nicht.

Vielmehr soll die Möglichkeit zur Durchführung einer vollvirtuellen Verhandlung geschaffen werden, bei der sich auch das Gericht nicht im Sitzungssaal aufhält – um die Öffentlichkeit zu gewährleisten, muss die Videoverhandlung dann zusätzlich in einen öffentlich zugänglichen Raum im Gericht in Bild und Ton übertragen werden. Auch dies ist nicht unproblematisch. Zwar mag Richterinnen und Richtern unterstellt werden können, dass Sie sich nicht gerade aus der heimischen Waschküche in die Verhandlung einwählen. Wie bei einer Einwahl aus dem heimischen „Dienst“-Zimmer allerdings das Beratungsgeheimnis gewahrt und Abstimmungen unter den Richtern ermöglicht werden, erscheint durchaus fraglich.

Auch eine Videobeweisaufnahme soll von Amts wegen angeordnet werden können; Beeinflussungsmöglichkeiten durch Dritte werden dann sicher kaum auszuschließen sein. Entsprechende Beweisaufnahmen sollen auf Antrag oder bei Streitwerten über € 5.000,00 von Amts wegen vorläufig – bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss oder einer sonstigen Verfahrensbeendigung – aufgezeichnet werden. Wird beantragt, das Verhandlungsprotokoll um den Inhalt der Aufzeichnungen zu ergänzen, so muss nach der Begründung des Regierungsentwurfs der gesamte Inhalt im Wortprotokoll verschriftlicht werden - bei der Videoaufzeichnung einer Zeugenaussage sollen dann auch über das gesprochene Wort hinaus „auch wertungsfreie Anmerkungen zur Körpersprache (Gestik, Mimik) des Zeugen (zum Beispiel Kopfnicken, Anzeichen von Nervosität)“ in das Protokoll aufgenommen werden, wenn dies für die Aussage oder deren Wahrheitsgehalt von Bedeutung ist. Streiten die Parteien dann darüber, wie relevant die hochgezogene Augenbraue eines Zeugen war und ob dies in das Protokoll gehört, obwohl doch die Videoaufzeichnung bis zum endgültigen Verfahrensabschluss aufzubewahren ist?

Insgesamt wirft der durchaus begrüßenswerte Entwurf eine Fülle von Fragen auf, die sorgfältiger Prüfung bedürfen und mit denen sich die Bundesrechtsanwaltskammer in ihrer Stellungnahme Nr. 5/2023 eingehend befasst hat. Zu begrüßen ist der Regierungsentwurf dabei schon deshalb, weil die geplanten Gesetzesänderungen die Landesjustizverwaltungen bei einer recht knappen Übergangsfrist von (derzeit vorgesehenen) sechs Monaten seit Verkündung zwingen werden, für die nötige technische Ausstattung der Gerichte mit Videokonferenztechnik zu sorgen. Schließlich war es bereits ein schwerwiegender Fehler, der Justiz bei der Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs viel zu viel Zeit einzuräumen und Jahre zuvor allein die Anwaltschaft in die Pflicht zu nehmen. Derlei Schneckentempo bei der Digitalisierung der Justiz darf sich nicht wiederholen.

2. Kammerversammlung und Hamburger Rechtstag

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine währt nun bald ein Jahr, ohne dass ein Ende absehbar ist. Grund genug, sich hiermit im öffentlichen Teil unserer Kammerversammlung am 25. April in den Mozartsälen am Platz der Jüdischen Deportierten, Moorweidenstraße 36, erneut zu befassen. In der Kammerversammlung des letzten Jahres analysierte Prof. Thomas Straubhaar in seinem Vortrag „Welt(un)ordnung der Zukunft: Was folgt daraus für Recht und Wirtschaft?“ die Folgen des Krieges. Für den öffentlichen Teil der diesjährigen Kammerversammlung um 18:00 Uhr haben wir als Gastredner den Kollegen und Experten für internationales Strafrecht, Herrn Prof. Dr. h.c. (Durham, UK) Wolfgang Schomburg, gewinnen können, der unter anderem Richter an den Internationalen Strafgerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda sowie am Bundesgerichtshof war. Er wird zum Thema „Die strafrechtliche Aufarbeitung des bewaffneten Konflikts in der Ukraine“ vortragen.

Corona hat bedauerlicherweise die Fortführung unseres „Hamburger Rechtstags“ vereitelt, den wir im Abstand von zwei Jahren bis 2019 veranstaltet haben. Wir setzen diese Veranstaltungsreihe nun fort: Der 6. Hamburger Rechtstag findet in diesem Jahr am 8. Mai von 12:00 bis voraussichtlich 19:00 Uhr in den Räumlichkeiten der Handelskammer statt. Auch hier konnten wir hochkarätige Referenten gewinnen, so zum Forschungsprojekt zur digitalen Strukturierung des Zivilprozesses, den Änderungen im Baurecht (BauGB) und zum Presserecht. Weitere Informationen zum Rechtstag folgen.

Sowohl bei der Kammerversammlung als auch beim Rechtstag sichert frühzeitiges Erscheinen die besten Plätze. Beide Termine bitte ich vorzumerken und freue mich, Sie dann begrüßen zu dürfen!

Ihr

Dr. Christian Lemke
Präsident