HANSEATISCHE RECHTSANWALTSKAMMER HAMBURG
Ausgabe 4/2024 vom 29. August 2024

Digitalisierungsinitiative

Dr. Christian Lemke, Präsident von Dr. Christian Lemke, Präsident

Bund und Länder haben sich bereits Ende März 2023 darauf verständigt, dass der Bund den Ländern für Digitalisierungsvorhaben der Justiz in den Haushaltsjahren 2023 bis 2026 insgesamt 200 Mio. Euro bereitstellt. Die beschlossene „Digitalisierungsinitiative der Justiz“ von Bund und Ländern bedeutet eine Zäsur – erstmals bringt sich der Bund in Digitalisierungsvorhaben der Länder ein. Dringend nötig, betrachtet man die zersplitterten föderalen IT-Strukturen der Länder. Nun nimmt die Initiative Fahrt auf: Stand heute sind 26 Vorhaben vom Haushaltsausschuss des Bundes freigegeben und 183 Mio. Euro verplant. Anträge auf Finanzierung weiterer fünf Projekte sind derzeit noch nicht beschieden; weitere fünf bis sieben sind in Planung. Die Schwerpunkte liegen in den Bereichen gemeinsame Anwendungsentwicklung, externe und interne Onlinedienste, künstliche Intelligenz, elektronischer Rechtsverkehr, Infrastruktur und Governance sowie Umsetzung von EU-Vorgaben (DigitalisierungsVO (EU) 2023/2844 und E-EvidenceVO (EU) 2023/1543).

Zu den zentralen Vorhaben des Bundes zählen die Konzeption einer bundeseinheitlichen Justizcloud, die Pilotierung eines zivilgerichtlichen Online-Verfahrens, die Entwicklung einer Digitalen Rechtsantragsstelle, die Realisierung eines einheitlichen Rechtsinformationsportals, eines Videoportals der Justiz und einer Vollstreckungsdatenbank zur papierlosen Zwangsvollstreckung. Die Förderung von Vorhaben der Länder umfasst u.a. die Einführung eines gemeinsamen Fachverfahrens für die Justiz, die weitere Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs (u.a. Weiterentwicklung des Datenaustauschformats XJustiz und SAFE-Verzeichnisdienst; Visualisierungswerkzeuge für XJustiz-Datensätze), die Strukturierung von Justiz-Verfahrensakten mit Hilfe von KI und KI-Apps, die Entwicklung einer KI-Strategie und KI-Plattform, eine maschinelle Übersetzungsplattform der Justiz, die Entwicklung eines generativen Sprachmodells der Justiz und vieles andere mehr.

Am 11. Juni hat das BMJ nun einen Referentenentwurf zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit vorgelegt. Das Verfahren soll Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, ihre Ansprüche im Bereich niedriger Streitwerte in einem einfachen, nutzerfreundlichen, barrierefreien und digital unterstützten Gerichtsverfahren geltend zu machen. Zugleich soll das Online-Verfahren dazu beitragen, die Arbeit an den Gerichten durch eine strukturierte Erfassung des Prozessstoffs und technische Unterstützungswerkzeuge effizienter und moderner zu gestalten; im Bereich der Massenverfahren wie etwa bei Geltendmachung von Fluggastentschädigungsansprüchen soll eine ressourcenschonende Bearbeitung gefördert werden. Der Entwurf sieht die Schaffung eines 12. Buches der ZPO vor, mit deren §§ 1121 ff. ZPO-E die Rechtsgrundlagen für die Erprobung und mögliche dauerhafte Regulierung neuer Technologien, Kommunikationsformen und Verfahrensabläufe in der Zivilgerichtsbarkeit geschaffen werden. Die Länder werden ermächtigt, durch Rechtsverordnung teilnehmende Amtsgerichte zu bestimmen, bei denen über Postfächer wie beA, eBO oder OZG-Nutzerkonten oder alternativ eine zentrale Kommunikationsplattform Klagen eingereicht werden können. Zur Prozessleitung kann das Gericht Strukturierungsvorgaben machen und etwa anordnen, dass die Parteien ihren jeweiligen weiteren Vortrag demjenigen der anderen Partei in digitaler Form gegenüberstellen – im Blick hat man hier die Ergebnisse des jüngst abgeschlossenen Projekts „Reallabor Basisdokument“ der Justizministerien von Niedersachsen und Bayern sowie der Uni Regensburg. In geeigneten Fällen soll das Gericht von mündlichen Verhandlungen absehen und entscheidungserhebliche Tatsachen auch durch Aussagen von Zeugen und Auskünfte von Sachverständigen feststellen dürfen, die mittels Bild- und Tonübertragung, schriftlich, elektronisch, telefonisch oder mithilfe anderer geeigneter Mittel der Fernkommunikationstechnologie erfolgen. Der Gesetzentwurf ist zu begrüßen, auch wenn er durchaus Fragen aufwirft (hierzu s. BRAK-Stellungn. 47/2024).

Insgesamt verdient die Initiative von Bund und Ländern Unterstützung – der Föderalismus stand einer Digitalisierung der Justiz lang genug im Weg und hätte die BRAK das beA nicht in Angriff genommen, gäbe es wohl heute noch keinen elektronischen Rechtsverkehr. Ob und wann die Digitalisierungsinitiative wirkliche Früchte trägt, ist allerdings fraglich. Der vom Bund vorgesehene Beitrag von € 200 Mio. ist nicht eben viel. Glaubt man entsprechenden Presseberichten, so sollen allein zwei der Big Four-Wirtschaftsprüfungsgesellschaften jeweils 1 Mrd. Dollar (!) in die Hand genommen haben, um die interne Digitalisierung und KI-Entwicklung voranzutreiben. Die für das Online-Zivilverfahren vorgesehene Erprobungsdauer von 10 Jahren stimmt ebenfalls nicht zuversichtlich. Und das eine oder andere Gericht wird es offenbar nicht einmal schaffen, fristgerecht bis 1.1.2026 die digitale Akte einzuführen. Diese Frist wurde durch Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vorgesehen. Das Gesetz stammt aus dem Jahr 2017. Damals geborene Kinder lernen heute in der Grundschule mit dem iPad.


Dr. Christian Lemke
Präsident